Landschaft, Skulptur, Ort
Die Arbeiten von Günter Herrmann stehen quer zu den traditionellen Gattungen und Kategorien der europäischen Neuzeit und Moderne. Sie haben mit Landschaft zu tun, mit dem Anlegen von Gärten oder mit Gartenarchitektur, mit Architektur, mit Skulptur, mit Malerei, mit Raum ganz generell und mit der spät- oder postmodernen skulpturalen Kategorie der Ortsbezogenheit. Günter Herrmann schafft Orte sowohl in der Landschaft, in Gärten und Parks, als auch in der Stadt, auf Plätzen und anderen städtischen Flächen, indem er sie durch Setzungen von Steinen, Steinlinien und Steinflächen (und zu Stein gehört dann auch Kies, Sand und Beton), fast immer verknüpft mit Wasser (Wasserläufen, Brunnen, Teichen), artikuliert, markiert und erfahrbar macht. Dabei nimmt er Linien, Beziehungen und Funktionen der vorgefundenen Situation auf, verändert sie, verdeutlicht sie, interpretiert sie. Seine Arbeiten sind deswegen grundsätzlich ortsbezogen – wobei sie in extremen Fällen den Platz oder die Landschaft überhaupt erst schaffen, die sie artikulieren und in ihrer Komplexität wahrnehmbar machen. Sein Grundprinzip in dieser Arbeit ist Integration: Integration von Situation und Eingriff, von (städtischer oder landschaftlicher) Umgebung und skulpturalen Setzungen, von Stein und Wasser, von sensuellen Qualitäten möglichst vieler Sinne.
Integration bezieht sich auch auf die in der europäischen Neuzeit klar getrennten Gattungen verschiedener Künste und der ästhetischen Wahrnehmung. Indem er in Landschaft eingreift oder sie bis zu einem gewissen Grad erst schafft, versteht er die vorgefundene Situation schon ästhetisch, als Bild (in einem weiten Sinn). Und Landschaft ist, im historischen Zusammenhang (denn dieser Übergang ereignete sich erst um 1750), genau das: dass die vorher nur beschwerliche und widerständige Natur durch einen ästhetischen Blick vergeistigt und zum Bild wird.[1] Unter einem ästhetischen Blickwinkel werden dann Setzungen von Steinen, die Anlage von Wasserläufen und Steinlinien zu einer Art von Malerei (oder eher Zeichnung, sogar Kalligraphie) – wie das in der japanischen Gartenkunst auch explizit gesehen wurde und wird. Da Landschaft aber nicht nur kontempliert werden soll, sondern geschaffen oder zumindest bearbeitet, handelt es sich bei dieser Tätigkeit um Architektur (oder `Urfügung´). Und das Finden, Herstellen und Bearbeiten von Felsbrocken und Steinen kann seinerseits direkt als bildhauerische Arbeit verstanden werden – vor allem wenn der Begriff der Skulptur erweitert wird, wie das nach 1960 der Fall war, und Skulptur zu einer Wahrnehmungslenkung im Raum wird, die an einem Ort stattfindet und die einen Ort erst schafft.
Die Erkundung der Arbeit von Günter Herrmann verläuft deswegen in vier sehr unterschiedlichen Zirkeln, die historisch und theoretisch an unterschiedlichen Phänomenen ansetzen – die ihrerseits jedoch durchaus wieder verflochten sind. Der erste Zirkel geht von einem zentralen Impuls dieser Arbeit aus: der Kritik an der Zweckrationalität vieler moderner und zeitgenössischer Architektur, und, erweitert, der Kritik an der flachen Zweckrationalität neuzeitlichen europäischen Denkens überhaupt. Gegen die zweckrationale Architektur setzt sich eine Architektur, die sich an ihrem Ort oder in der Natur integriert, und die ihrerseits ihren Ort oder die Natur integriert. Diese integrierende Ausweitung stand ihrerseits mit einer allgemeinen theoretischen Bewegung in Zusammenhang (zweiter Zirkel), die den einen, homogenen und rein quantitativen Raum der europäischen Neuzeit in eine Vielfalt von Lebenswelten, affektiven und durch Imagination veränderten Räume aufspaltete. Ein entsprechendes Denken von räumlichen und zugleich sensuellen Beziehungen war von denjenigen Bildhauern nach 1960 entdeckt und selbst entwickelt worden (dritter Zirkel), die nach dem Bruch mit dem den modernen Begriff Skulptur ein extrem erweitertes Verständnis von Skulptur ausgebildet haben, in dessen Zentrum die Begriffe `Ort´ und `Ortsbezogenheit´ stehen. Das historisch dafür am meisten entfaltete Modell liefert die ostasiatische Gartenkunst (vierter Zirkel), die mit Stein und Wasser Landschaft nicht mimetisch nachbaut, sondern die Komplexität der Landschaft zu artikulieren und zu steigern versucht.
Einen einfachen Namen – geschweige denn einen einfachen Begriff – für die Arbeiten von Günter Herrmann zu finden, ist unmöglich. Die unterschiedlichsten Aspekte, Gattungen, historischen Zusammenhänge und Begriffe spielen hier ineinander, so dass wohl keine andere Wahl bleibt, als unter den verschiedenen Blickwinkeln auf diese Arbeiten auch verschiedene Benennungen zu verwenden.
I. Eine andere Architektur
Günter Herrmann geht in seinen Landschaftsgärten, Skulpturen und Ortsstiftungen von einem grundlegend anderen Verständnis von Bauwerk, Skulptur und Landschaft aus als die technische, rein quantitative Neuzeit. Denn ein entscheidender Schritt für die Ausformung der europäischen Neuzeit in der Renaissance war die Konstruktion eines homogenen, kontinuierlichen, und damit messbaren und kontrollierbaren Raums. Ein solcher Raum, der als neutraler Behälter der gegenständlichen Körper gedacht, vorgestellt und hergestellt wurde, konnte in der perspektivischen Konstruktion demonstriert werden; die räumliche Perspektive war eine wissenschaftliche Konstruktion ersten Ranges, welche die naturwissenschaftliche Begreifbarkeit und die technische Fass- und Herstellbarkeit der sichtbaren Welt erstmals voraussetzte und ihrerseits die Voraussetzungen dafür schuf. Eine grundlegende Veränderung der Einstellung des Subjekts zur Welt war mit der Konstruktion eines homogenen Raums verknüpft: der Mensch nahm sich nicht mehr im Raum wahr, als Bestandteil einer ihn umgebenden Welt, mit der und zu der er in vielfältigen leiblichen und sensuellen Beziehungen steht, sondern er stellte sich als blickendes Bewusstsein, als körperloses Subjekt, den geistlosen materiellen Körpern oder Objekten entgegen. Vermittels dieser metaphysischen Entgegensetzung löste sich das Subjekt als abstrakter Blick aus der Welt heraus: der individuelle und zugleich allgemeine, anonyme Vermittler zwischen Geist und Materie, der Körper (und die Sinne), wurde selbst gespalten und aufgeteilt: der Blick gehört als aktives Organ des Intellekts zum Bewusstsein, der Körper aber und die an sensuelle Stofflichkeit gebundenen Sinne wurden als dunkle Materie zur materiellen Welt geschlagen. Der abstrakte Blick des Subjekts begriff und ergriff die vor ihm berührungslos, auf Distanz und perspektivisch ausgebreiteten Körper als visuelle Objekte, begriff sie als Bilder (als distante visuelle Bedeutungen ohne Berührung oder Vermittlung mit dem Subjekt). Das Verständnis der Welt als Bild ist die Grundlage des neuzeitlich-technischen Weltbilds; von da zum photographischen Blick – der ebenso die berührungslose Erfassung der dreidimensionalen Körper in einem neutralen, homogenen und bruchlosen Raum impliziert – ist es nur ein kleiner Schritt. Ein Photo löst nur das Bild aus dem Bild, löst ein erstarrtes, mediales Momentbild vom Wahrnehmungsbild ab.
Auch die neuzeitliche ästhetische Wahrnehmung ist ein Abkömmling der Trennung von Subjekt und Objekt, von lichtartigem, intelligierendem Blick und dunklem, materiellem Körpern. Der ästhetische Blick zeigt offensichtlich und demonstrativ die berührungslose Distanz zu seinem Gegenstand, die völlige Trennung des Blicks von den Phänomenen – und vermag deswegen die Voraussetzungen dieser neuzeitlich-technischen Einstellung sichtbar zu machen. Der ästhetische Betrachter fixiert lohnende, ästhetisch reizvolle Objekte, die auf ihn, auf seinen Standpunkt – oder präziser: Blickpunkt – hin ausgerichtet sind. Das gilt nicht nur für Gemälde oder Skulpturen, sondern in ebenso hohem Grade für neuzeitliche Architektur – wie das in besonders Maße etwa in der barocken Repräsentationsarchitektur offensichtlich ist. Architektur ist in der Neuzeit durchweg technisch hergestelltes Objekt und damit Bild für einen fixierenden Blick, der es von einem zentralen Blickpunkt aus erfasst.
Der vorneuzeitliche, vortechnische Besucher fixierte keine lohnenden, photographierbaren Objekte. „Er sah nicht ein `Bild´, das sich ihm bot, sondern er beging – mit allen seinen Sinnen – den Raum, in dem er stand.“[2] In der Architektur der griechischen Antike oder des vormodernen – aber auch noch des heutigen – Ostasiens (besonders Japans) lässt sich dieses völlig andere Verständnis von Raum erfahren: ein Raum, der sich in qualitativen Kontrasten aufspannt, zwischen dem Nahen und dem Fernen (zu dem immer auch der Horizont gehört) und zwischen der vorgefundenen Natur und der in sie gesetzten Architektur. In einem solchen Raum gibt es keinen privilegierten Standpunkt, keinen vorgeschriebenen Blickpunkt, sondern der Raum umgibt den körperlich anwesenden Menschen, der, von ihm umschlossen, sich in ihm bewegt. „Es gibt hier nichts optisch Fixierbares, nichts, was man sozusagen nur mit einem Auge sehen könnte. Alles ist – zwischen Oben und Unten, zwischen links und rechts, zwischen Nähe und Ferne – das In-sich-Ruhen eines rhythmischen Spieles.“[3] Der Raum wird nicht mehr als abstrakter und leerer Behälter verstanden, in den der Blick von außen hineinschaut, sondern er ist ein vielfaches In-Beziehung-Treten des Menschen zur Natur, zur Architektur, zu den nahen und fernen Momenten eines sich durch Bewusstwerdung ausweitenden Raumes, eines in immer größerem und sich ausdehnendem Maße sichtbar und erfahrbar werdenden Raumgefüges. Architektur in diesem Verstande, wie er der griechischen und japanischen Antike besonders nahe stand, ist nicht das Herstellen eines räumlichen Objekts, das Errichten eines mit seinen Außenmauern abgegrenzten Gebäudes, sondern ist Bezugnahme auf den schon gegebenen Ort und seine Topologie, das Spiel der Markierungen, Unterschiede und Qualitäten im Raum (in einem qualitativen, nicht homogenen, nicht messbaren Raum). „Architektur, das ist – von Haus aus – im Kleinen wie im Großen nicht Technologie, sondern Topologie.“[4]
Das legte nahe, für Tempel und andere Stätten Orte zu wählen, die selbst schon eine starke Individualität und harmonische Artikuliertheit oder Gefügtheit aufweisen, die im Idealfalle Gebirge und Meer, Berg und Wasser vereinigen. Das gilt für viele griechische Tempel, die sich auf felsigen Kaps über dem Meer erheben: „Was Meer und Küste sind, gelangt durch den Bau zur Erscheinung. Was den Bau zum Bau macht, das ist nicht das, was zu registrieren ist, wenn ich ihn ansehe, sondern das, was sichtbar wird, wenn wir mit ihm sehen.“[5] Das gilt ebenso für ostasiatische Tempel und Gärten. Der Begriff für Landschaft, Shan-Shui im Chinesischen, Sansui im Japanischen, bedeutet wörtlich: Berg und Wasser; und ostasiatische Gärten versuchen, die komplexe Harmonie von vorgefundenen Naturkräften und von menschlichen Bauten in ihnen auf beschränktem Raum zu artikulieren – dabei vertreten gefundene, unbearbeitete Steine, die in den Garten gesetzt werden, metonymisch die Berge, während das Meer durch Bäche und Teiche (vergleichbar metonymisch) bezeichnet wird. Durch die architektonische Betonung und Markierung von Momenten der vorgefundenen komplexen Landschaft wird diese sichtbarer; sie zeigt sich artikulierter für den Besucher, der sich in ihr bewegt. Der Besucher nimmt die Topologie des natürlichen Ortes um so stärker wahr, je klarer sie durch die Architektur markiert und artikuliert wird; seine visuelle und leibliche Erfahrung des Ortes macht ihm diesen als Spiel und vielfachen Zusammenhang verständlich. Architektur bedeutet dann „nicht Raum-Umschließung, sondern Raum-Öffnung.“[6]
An die Stelle des beherrschenden Blicks, der sein Objekt erfasst, tritt in dieser Erfahrung des Ortes das Spiel oder der Rhythmus der Gegensätze, des Nahen und Fernen, des Natürlichen und des Gebauten, des Vorgefundenen und des Dazugesetzten; der Raum spannt sich zwischen unterschiedlichen Zentren und Polen, als ein Feld von Unterschieden und Beziehungen, nicht als ein neutraler, homogener Behälter. Die Gegensätze und Kontraste stehen zueinander nicht einem unversöhnlichen Widerspruch, sondern in einer lebendigen Einigkeit, in einem `Wechsel der Töne´. In einer solchen Erfahrung des Ortes wird vor allem der Widerspruch von abstraktem, fixierendem Blick und materiellem Blickobjekt aufgelöst und in einen Umgang des Menschen und des Ortes miteinander überführt, in dem beide (in einem gewissen Sinne) personale Beziehungen zueinander unterhalten: der Ort wird nicht von einem naturbeherrschenden technischen Blick unterworfen, sondern er lässt seinen Besucher erfahren, wie sehr er selbst Teil des Ortes und der Natur ist, wie sehr er selbst in Beziehung und Abhängigkeit von der Natur steht.
Um solche Erfahrungen würde es in einer Architektur gehen, die sich nicht mehr, von Hybris geschüttelt, zur Herrin der Natur aufschwänge, sondern die der Natur zu klarerer Artikulation verhülfe, sie anerkennend und kultivierend: es ginge um „das Versammeln der großen Kontraste, ... das Sich-ins-Weite-Öffnen und Sich-ins-Geheimnisvolle-Verschließen, Einheit, die immer Vielfalt ist, und Vielfalt, die immer zusammenklingt, weder eine sich aufsteigernde Hierarchie, noch eine sich ein-bindende Homogenität, weder das System eines Kräftepotentials, noch die Einheit einer Front. Architektur als Platz, das heißt hier nicht: Aufmarschgelände oder Parkplatz, es heißt hier: Raum-Fügung.“[7] „Das heißt Pflegen und Bauen, der Sinn des römischen Wortes cultura, des griechischen Wortes technè.“[8]
Das fordert von der Architektur – wie paradigmatisch in ostasiatischen Gärten zu sehen – zuerst die Wahrnehmung der Einzigartigkeit und Individualität des Ortes. Diese Individualität eines Ortes ist in zeitgenössischen Städten oft verstellt, durch funktionale oder pseudofunktionale `öffentliche Möblierung´ zugestellt, so dass die erste Aufgabe des Architekten ist, den Raum des Ortes freizuräumen. Nur in dem Maße wie ein solches Freiräumen gelingt, kann der Ort als Individuum, wie ein Kunstwerk, das sich von allen anderen Kunstwerken unterscheidet, wahrgenommen und erfahren werden. Denn das Spiel der Kontraste, die Spannung des Bewegungs- und Wahrnehmungsfeldes zwischen qualitativ unterschiedlichen Polen, der Rhythmus des Ortes können sich erst dann entfalten, wenn nicht mehr dem Blick eine beliebige zweckrationale Akkumulationen oder Konstruktion zufällig nebeneinandergestellter Einzelobjekte entgegensteht, wenn ein Spiel von Differenzen im Sensuellen, im Optischen, im Haptischen, im Akustischen, im Taktilen, in den Hautwahrnehmungen den Besucher umgibt und seine Wahrnehmung provoziert. Die Differenzierung der unterschiedlichen Elemente des Ortes nimmt diese in ihrem räumlichen Zusammenhang wahr, der sich auf die gesamte Situation ausdehnt, der auch den vorgegebenen Horizont (oder verschiedene Horizonte) einbezieht. Auf diese Weise ähnelt der Ort einer ästhetischen Komposition, einem Feld von zusammenhängenden Unterschieden, von hergestellten, bewussten und von einem Subjekt (oder der Natur) geschaffenen, zugleich sensuellen und reflexiven Differenzen – wie das in der ästhetischen Einstellung generell der Fall ist. Doch schließt diese `Komposition´ die Natur nicht aus, setzt sich ihr nicht entgegen; der Architekt oder Bildhauer des Ortes findet die natürliche Landschaft oder die vom Menschen geschaffene Situation, etwa einen städtischen Platz, als dasjenige vor, das schon selbst artikuliert und (in einem weiten Sinn) ästhetisch komponiert ist und in das er nicht technisch überwältigend eingreift, sondern dem er durch Markieren, Freiräumen und Verdeutlichen hilft, sichtbar und erfahrbar zu werden. Im so verstandenen Ort löst sich auch der Gegensatz zwischen dem Natur- und dem Kunstschönen auf, der die Aufklärung so beschäftigt hatte.
II. Topologie und Landschaft
Selbstverständlich geht es Günter Herrmann nicht darum, eine vormoderne und religiös grundierte Erfahrung des numinosen Orts und der numinosen Natur wiederzubeleben. Doch kann eine Reflexion an diese Erfahrungen anknüpfen, die sich darum bemüht, die Aporien und die Gewalt des neuzeitlich-technischen Weltbildes zu überwinden – welche Überwindung schon allein deswegen dringend notwendig erscheint, weil der technische Stand der Produktionsmittel schon im 20. Jahrhundert ein so immenses destruktives Potential bewiesen hat, dass die Zerstörung der Natur nicht nur eine bedrohliche Möglichkeit, sondern eine möglicherweise kaum mehr abzuwendende Potentialität ist. Auch die Menschen gehören zur Natur, vermögen ihre natürliche Bedingtheit nicht zu überwinden, vermögen sich nicht selbst technisch- rational herzustellen; die `Naturbeherrschung am Menschen´ hat ein solches Ausmaß erreicht, dass weite Bereiche von Subjektivität heute biochemisch, neurologisch, hirnphysiologisch oder medientechnisch gesteuert oder kontrolliert werden können, ohne dass die Aporie von herrschendem Geist (etwa in der Form der Wissenschaft) und von unterworfener, begriffener, technisch beherrschbarer Materie (zu der heute auch der Körper, die hormonelle Affektwelt und die Sinnesleistungen gehören) auch nur im geringsten überwunden wäre. Die Kritik an der Zweckrationalität auch in der Architektur zielt auf die Bewusstmachung, möglichst auch Lockerung der Gewalt dieser Unterwerfung der Natur (einschließlich der menschlichen Natur), dieser Zurichtung der Natur (und des Körpers oder der Subjektivität) zu funktionalen Objekten.
Auch Architektur sollte sich gegen jede isolierte Funktionalität richten und die vielschichtige Wirklichkeit der Zusammenhänge eines Ortes aufgreifen; eine vielschichtige Wirklichkeit, die nicht nur die räumlichen Momente des Ortes und der Situation umfasst, sondern ebenso die historischen, sozialen und gesellschaftlichen Aufladungen des Ortes, die aus seiner Geschichte, seinen sozialen Bedingungen und seinen Gebrauchsweisen herstammen und die sich mit der mehrschichtigen Wirklichkeit seiner Umgebung verschränken. Beim Bauen ist deswegen die spezifische Situation des Baus, ist der individuelle Ort zu berücksichtigen; das heißt, „daß wir natürlich versuchen sollten, möglichst viele der dort wirksamen Kräfte kennen zu lernen, seien sie aus der landschaftlichen, klimatischen, städtebaulichen, verkehrstechnischen, gesellschaftlichen oder sonstigen Situation heraus wirksam. Wir wollen diese Kräfte in ihrer Problematik erkennen und dann darauf antworten. ... Dadurch hat man eine Chance, eine Architektur zu schaffen, die von Anfang an eingebunden ist in das Geflecht, das ohnehin vorhanden ist, sei es direkt sichtbar oder spürbar wie die Straßen, die Berge, der Wind, der Fluß, oder seien es auch gesellschaftliche oder historisch Verflechtungen, die in die Geschichte zurückgehen.“[9]
Vor allem der japanisch-amerikanische Bildhauer und Gartenarchitekt Noguchi Isamu hat versucht, ein japanisches Verständnis von Ort – das immer mit der Verschränkung von Architektur und Garten, von Innen und Außen zu tun hat – neu zu formulieren. Von der Skulptur her kommend entdeckte er, dass der neuzeitliche ästhetische Eigenraum einer Skulptur einen anderen Typ, eine andere Erfahrung von Raum hervorbrachte, die, in sich selbst reflexiv verfasst, eine differenzierte Raum- und zugleich eine differenzierte Selbstwahrnehmung ermöglichte. Betrachter und Betrachtetes, Innenraum des Subjekts und Außenraum der Objekte verschränken sich in einem solchen Raum, den er vorerst noch skulpturalen Raum nannte: was der Betrachter fühlt, empfindet und denkt ist Bestandteil dieses Raumes ebenso wie die Gefühle, Empfindungen und Gedanken des Künstlers, der die Skulptur geschaffen hat. „Ich bin von der Idee hingerissen, dass Skulptur Raum erschafft; dass Formen, die auf dieses Ziel ausgerichtet sind, tatsächlich, wenn sie in einem passenden Größenverhältnis zu einem Raum stehen, einen größeren Raum schaffen. Es gibt einen Unterschied zwischen der faktischen, in Kubikmetern gemessenen Größe eines Raums und dem zusätzlichen Raum, den die Imagination liefert. Das eine ist Messung, das andere ein Gewahrwerden der Leere – unserer Existenz in der vorüberfließenden Welt.“[10] Die Wahrnehmung der Leere ist vor allem eine Art des Zurückgeworfenseins der Wahrnehmung auf den Wahrnehmenden, ein Selbstreflexivwerden der Wahrnehmung, die keinen Gegenstand mehr betrachtet, sondern sich selbst. Interessanterweise hat Noguchi Isamu diese reflexive Erfahrung der Leere ebenso wie Barnett Newman an einem sehr spezifischen Ort gemacht, dem Ort, an dem Barnett Newman erstmals auf den Begriff und das Konzept `Ort´ (und die Erfahrung des Erhabenen, die mit der `awareness of the void´ bei Noguchi auf das Engste verwandt ist) gestoßen war: dieser Ort waren die vorzeitlichen indianischen Kult- und Begräbnishügel am Ohio. „Ich hatte zu dieser Zeit ein tiefes Interesse an den vorgeschichtlichen Erdwerken der amerikanischen Indianer und hatte eine Reise nach Ohio gemacht, um den Great Serpent Mound zu sehen.“[11]
Die Orte (oder Plätze bzw. Gärten), die Noguchi Isamu daraufhin entwarf und die er als bewusste Modernisierungen (und nicht bloße Anwendungen) der Prinzipien japanischen Gartenbaus verstand, enthüllten erst allmählich ihre spezifisch topologische Qualität als Orte. Zuerst waren diese Gärten und Plätze nur ausgedehnter skulpturaler Raum. „Ich liebe es, Gärten als ein Skulptieren von Raum zu verstehen; ein Beginn und eine Suche nach einer anderen Ebene skulpturaler Erfahrung und Praxis: eine Erfahrung eines totalen skulpturalen Raums jenseits individueller Skulpturen. In einen solchen Raum kann man eintreten; er steht in einem Größenverhältnis mit uns; er ist real. Ein leerer Raum hat keine visuelle Dimension oder Bedeutung. Räumliche Beziehung und Bedeutung treten auf, wenn wohlüberlegte Objekte oder Linien eingeführt werden.“[12] Dabei verschwamm bei Noguchi (und anderen) der Begriff der `Skulptur´ zunehmend in den besonderen Bedingungen des Ortes: Skulptur wurde ein topographisches Feld mit vielen unterschiedlichen Zentren, mit qualitativen Unterschieden und Beziehungen, das von jedem Standpunkt aus unterschiedlich ist, in dem jedoch jeder Standpunkt gleichberechtigt und gleichwertig ist. In diesem Raum ist die Leere gleichwertig mit der Skulptur, ist die Ferne gleichwertig mit der Nähe, ist das Viele gleichwertig mit dem Einen. „Solche Skulptur ist ausschließend: sie ist weder dies noch das, sondern ein Ding im Raum, das unser Bewusstsein berührt; ein Knoten im Raum, ohne einen Inhalt, der zu irgendetwas außerhalb dieser Funktion in Beziehung steht oder davon abgeleitet ist, tatsächlich subliminal. Diese Skulpturen bilden das, was ich einen Garten nenne, in Ermangelung eines besseren Namens. Man blickt in ihm in viele Richtungen. Er wird sinnlich bewusst in der Tiefe. Aufgrund des Herumgehens des Menschen sind alle Punkte zentral. Ohne einen festgelegten perspektivischen Blickpunkt sind alle Blicke gleichwertig, dauernde Bewegung mit dauernder Veränderung. Die Imagination transformiert dies in eine Dimension des Grenzenlosen.“[13]
Eine solche vielfältige, zentrumslose, ambulative, qualitative und offene Erfahrung von Orten und Landschaften zu ermöglichen, ist eine zentrale Intention von Günter Herrmann. Die Möglichkeit einer solchen Erfahrung, einer Erfahrung jenseits der technischen und rein quantitativen Welt der neuzeitlichen Naturwissenschaften, setzt voraus, dass der eine Raum, der homogene, kontinuierliche und messbare Raum der Neuzeit, die zentrale Voraussetzung aller Naturwissenschaft, in Frage gestellt wird. Dieser eine Raum zerfällt in die unterschiedlichsten Erfahrungsräume (unter denen der imaginative Raum, der von Skulptur erschaffen werden kann, nur ein Beispiel von vielen ist).
III. Lebenswelt und unterschiedliche Räume
„Dass wir in mehr als einer Welt leben, ist die Formel für Entdeckungen, die die philosophische Erregung dieses Jahrhunderts ausmachen.“[14] Im 20. Jahrhundert wurde die Selbstverständlichkeit des neuzeitlichen Raumes, eines objektiven, messbaren und objektalen Raumes, in der Philosophie durch die Phänomenologie erschüttert – nicht im geringsten erschüttert wurde allerdings die allgemeine Einstellung der Naturwissenschaft und der Gesellschaft, das selbstverständlich herrschende technische Weltbild. Die alltäglich erlebte und gelebte Welt unterscheidet sich phänomenologisch von dem neuzeitlich-technischen Konstrukt des Raumes. Lebenswelt und Objektwelt bzw. technische Welt sind unterschiedlich; Husserl thematisierte dieses Auseinandertreten erstmals. Die Lebenswelt, ein „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“[15], ist regellos, nicht beherrschbar, und bettet den Menschen in die ihm vorgegebene Welt mit ihren Zufällen und Ereignissen ein: der Körper, die Sprache, die Psyche, die Familie, die Gesellschaft gehen dem Bewusstseinssubjekt voraus; es findet sie selbstverständlich vor und muss sich mit ihnen arrangieren. „Die Lebenswelt ist eben dasjenige Universum, das nicht aus freier Einstellung gewählt worden ist und gewählt werden kann.“[16] Erst die Konstruktion des neuzeitlichen homogenen, fixierbaren und messbaren Raums hat eine technisch beherrschbare Welt erzeugt, in der das Subjekt Herr und Schöpfer (oder Produzent) ist. In seiner Lebenswelt ist das Individuum vielfach abhängig; doch bleibt diese Abhängigkeit normalerweise unreflektiert, sie bleibt hinter der Selbstverständlichkeit des Lebens verborgen. „Die Lebenswelt ist ... dasjenige Faktum, das seine eigene Faktizität wesentlich selbst verhüllt und verbirgt, insofern es sich als das Universum der Selbstverständlichkeit ausgibt...“[17]
Was jedoch in der Lebenswelt alles enthalten ist, welche unterschiedlichen Räume, Erfahrungen und Topologien sie umfasst, muss offen bleiben: keine Theorie der erlebten und gelebten Räume kann diese abschließend erfassen, keine begriffliche Ordnung sie auflisten und begreifen. Denn in der Lebenswelt mischen sich untrennbar subjektive und objektive Momente, wird die Tönung oder Färbung der Erfahrung der Welt durch Empfindungen, Affekte, Gefühle und Stimmungen wesentlich. Selbst radikale psychische Umdeutungen der Welt, wie sie durch Phantasmen und Trugbilder bewirkt werden, erzeugen ihre eigenen Räume. „Die Beschreibungen der Phänomenologen haben uns gelehrt, dass wir nicht in einem homogenen und leeren Raum leben, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist. Der Raum unserer ersten Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum unserer Leidenschaften – sie enthalten in sich gleichsam innere Qualitäten...“[18]
Der Raum, in dem wir leben, ist ein vielfältiger Raum, in dem die unterschiedlichsten Beziehungen und Verknüpfungen stattfinden, auf ganz unterschiedlichen Ebenen: bewusste und unbewusste, erlernte und erlebte, gefühlte und gedachte, geträumte und erlittene Verknüpfungen bilden sich sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Erinnerung und in der Imagination (und ebenso zwischen diesen Instanzen). Dieses Durcheinander lässt sich nicht vereinheitlichen, sondern nur integrieren, es wird durch einen homogenen Objektraum nur ausgeschlossen, aber nicht beseitigt. Die Wirklichkeit des erlebten und gelebten Raums ist irreduzibel vielfältig und widersprüchlich. „Der Raum, in dem wir leben, durch den wir aus uns herausgezogen werden, in dem sich die Erosion unseres Lebens, unserer Zeit und unserer Geschichte abspielt, dieser Raum, der uns zernagt und auswäscht, ist selber auch ein heterogener Raum. Anders gesagt: wir leben nicht in einer Leere, innerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren kann. Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.“[19] Sobald in das erstarrte, tote Konstrukt `technischer Objektraum´ Gefühle, Bedeutungen, Erinnerungen, überhaupt qualitative Unterschiede eindringen, sobald es mit der gelebten und erlebten menschlichen Realität in Kontakt tritt, bricht seine Homogeneität und Neutralität (und damit seine Messbarkeit und Kontrollierbarkeit) zusammen. „Der von der Einbildungskraft erfasste Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt. Und er wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft.“[20]
In den Arbeiten von Günter Herrmann geht es demzufolge zuallererst um ein Freiräumen, das dem Ort seinen Raum einräumt; vor aller Differenzierung und Ausbildung von Beziehungen und Aufladungen im Raum muss einem solchen Raum Platz gemacht, Raum geschaffen werden, muss die technisch-funktionale Einstellung oder Haltung dazu gebracht werden, Raum zu geben. Das Freiräumen des Raums impliziert vor allem, dass alles offensichtlich Funktionale und Zweckrationale beseitigt wird, dass eine aktive Leere hergestellt wird: die Leere des Nichtdienlichen, die Abwesenheit des üblichen, erwarteten Funktionalen. Der Besucher soll, durchaus auch durch die Leere, zum Aufatmen und Verweilen verführt, in die Erfahrung des Schweigen oder einer positiven Abwesenheit geführt werden. Nur in dieser Leere ist ein Aufmerksamwerden auf den Ort mit seiner qualitativen Topologie von sensuellen und reflexiven Differenzierungen möglich. Eine solche Befreiung der Menschen von den Zwängen und Verpflichtungen, ein solches Innehalten und Zum-Wahrnehmen-Kommen können nicht selbst als Zweck formuliert und aufgezwungen werden, sondern können sich nur, ganz beiläufig, als Zerstreuung und Entspannung einstellen. Ein Aufmerken und der damit verbundene Wechsel der Einstellung kann nicht aufgenötigt, sondern kann nur angeboten werden.
Ein wichtiges Mittel solcher Verführung ist eine Vielzahl von abwechselnden Bildern (in einem neuen, emphatischen Sinn), wobei `Bild´ immer selbst schon einen komplexen Zusammenhang von optischen und anderen sensuellen Kontrasten, Rhythmen und Empfindungen meint – so wie in chinesischen oder japanischen Gärten viele unterschiedliche Ausblicke (von Berg und Wasser, von Felsen, Bächen, Teichen und Inseln) in dem engen Raum des Gartens gestaltet und kombiniert werden, die sich nie gleichzeitig zu sehen geben, sondern sich nur dem Wandelnden erschließen. Das Zusammenspiel der Sinne einerseits, des vorgefundenen Ortes mit den gesetzten Markierungen, Bauten und Skulpturen andererseits wirkt auf einer ersten Ebene entlastend und entspannend, kann den Besucher vom Druck der Zweckrationalität mindestens momentan befreien. Primär ist ein Wohlgefühl, das den Besucher wieder stärker in der Welt verankert und ihn zugleich sich selbst deutlicher fühlen lässt. Im Fortgang jedoch wird das Aufmerken auf die eigene Entspannung und auf den Ort, wird solches Selbst- und Ortsgefühl zu einer Reflexion solcher Erfahrungen und kann zu einem Bewusstsein vom Spiel oder vom Rhythmus des Raums führen, zu einer Affirmation der zugleich sensuellen und geistigen Verbindungen und Unterschiede. Solche situative Erfahrung bleibt im Sensuellen verankert und entfaltet im Durchgang durch ihr eigenes Reflexivwerden ein konkretes Bewusstsein – das gilt in vergleichbarer Weise für jede ästhetisch-reflexive oder poietische Erfahrung.
Am stärksten verdichtet sich die sensuelle Reflexivität dieser Erfahrungen mit ihren Aufladungen und Korrespondenzen, die aus den unterschiedlichsten Ebenen der Persönlichkeit und der Subjektivität hervorgehen, in `Bildern´, hoch aufgeladenen sensuellen Konstellationen. In diesen verschmelzen psychische Motivationen mit Erfahrungen, Erinnerungen und Wahrnehmungen zu dichten, mehrfach überdeterminierten, aber rätselhaften und geheimnisvollen Sinnfiguren, die eher faszinieren als dass sie einen artikulierbaren Sinn besäßen. „Unaufhörlich imaginiert die Einbildungskraft und bereichert sich mit neuen Bildern.“[21] Diese `Bilder´ sind keine optischen Abbildungen von Objekten, sind keine Abbilder von Gegenstände; sie sind komplexe Sinnfiguren, die alle Sinne beschäftigen können; sie sind Bildungs- oder Kondensationskerne komplexer Figuren aus Wahrnehmungen, Bedeutungen, Gefühlen und Empfindungen. Diese `Bilder´ sind zentrale Bezugspunkte der Individuen mit ihren Stimmungen und Affekten. „Man könnte die Bilder vermehren, wenn man sie aus den Bereichen des Lichtes und der Töne, der Wärme und der Kälte nähme. Dann würde man eine langsamere, aber zweifellos besser begründete Ontologie verbreiten als jene, die auf den geometrischen Bildern beruht.“[22] Für Günter Herrmann entstehen solche Bilder – er neigt dazu, seine Arbeiten `Landschaftsbilder´ zu nennen – vor allem in der und aus der Konstellation von unverhüllten materiellen und visuellen Gegensätzen, durch die vorgefundene Situationen nicht verdeckt, sondern deutlicher artikuliert werden. Insbesondere der Gegensatz von nicht weiter bearbeiteten, nur gebrochenen Felsblöcken und von beweglichem Wasser, von Brunnen, Fontänen oder Bächen, schafft eine komplexe sensuelle Spannung, in der alle Sinne beteiligt sind, wörtlich und suggestiv-imaginär: die bewegungslose Härte und Kälte der Felsblöcke mit den an ihnen sichtbaren Spuren der aufgewandten Kraft – die Bohrlöcher, Keilspuren und Bruchkanten – und die Formlosigkeit des sich bewegenden Wassers; die Zeitlosigkeit und Stille der Felsen und die schnellen, flüchtigen Geräusche des Wassers; der reale und imaginierte Geruch und Geschmack des Steins und die spürbare und riechbare Feuchtigkeit des Wassers, das in Fontänen und Bachläufen zerstäubt; die reale oder imaginär suggestive taktile Widerständigkeit der Felsblöcke und die Empfindung des leichten, ausweichenden Widerstands des Wassers.
IV. Skulptur und Ort
Für die Landschaftsgärten und –Skulpturen von Günter Herrmann wichtig wurde aber nicht nur die zunehmende Infragestellung des homogenen, neutralen und messbaren Raums der Neuzeit, des mathematischen und technischen Raums, sondern auch die Infragestellung der oder eher der grundsätzliche Bruch mit der modernen Skulptur, der in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts stattgefunden hat. Denn für seine Arbeiten, die sowohl mit Landschaftsgärten in ostasiatischen Sinn zu tun haben als auch mit der erweiterten Skulptur der europäischen und nordamerikanischen Spät- oder Postmoderne, ist der Bruch mit der modernen Skulptur die zweite wichtige Quelle. Und interessanterweise haben wichtige Künstler und Theoretiker dieses Bruchs entscheidende Erkenntnisse und Erfahrungen an traditionellen japanischen Gärten gewonnen: die Konstellation von `Berg und Wasser´, von bewusst gesetzten, gefundenen und herbeitransportierten Felsen und von Bächen und Teichen ist von diesen westlichen Autoren als ein Verständnis von `Ort´ (nicht von Landschaft) entdeckt worden, das die neuen plastischen Sensibilitäten und Problemstellungen der westlichen Kunst in einem völlig anderen Kontext schon formuliert hatte. Umgekehrt zum Weg von Isamu Noguchi, der von japanischen Gärten ausgehend ein neues Verständnis von Skulptur entwickelt hat, führte bei westlichen Künstlern die Krise, die sich in der modernen Kunst, vor allem der modernen Malerei immanent ereignet hatte, zur Entdeckung traditioneller japanischer Gartenkunst.
So wie ganz generell im Jahrzehnt der 1960er Jahre die Moderne in der Kunst in Frage gestellt und zertrümmert wurde, ausgehend von der Musik und am weitestreichenden in der Leitgattung der Moderne, der Malerei, so wurden auch die zentralen Kategorien der modernen Skulptur destruiert; was dazu führte, dass ein ganz neuer Typ von skulpturalen Arbeiten entstand, der von Rosalind Krauss als „Skulptur im erweiterten Feld“[23] analysiert wurde. In der Moderne bis in die sechziger Jahre war der genuine und allein mögliche Ort des Kunstwerks das Museum, der für das Kunstwerk speziell geschaffene Ort, der es von der Welt abtrennte und isolierte. Kunstwerk und Museum bilden seit der frühen Moderne eine prästabilierte Harmonie: alles, was im Museum ist, ist Kunst, und Kunst ist allein das, was im Museum ist. Das Museum ist dabei tatsächlich ein Nicht-Ort, die völlige Neutralisierung aller sozialer, historischer und situativer Zusammenhänge. Das Museum als idealer, zeitloser, neutraler (und in einem weiteren Sinne ortloser) Behälter der Kunst befreite diese zu sich selbst, befreite sie aber auch von ihren gesellschaftlichen und situativen Bindungen, von realen Orten, Zeitpunkten und Zusammenhängen. Der „White Cube“[24] des Museums schließt das moderne Kunstwerk von allem ab, was seine autonome Idealität beeinträchtigen könnte. Und selbst wenn moderne Skulptur nicht im Museum steht, sondern außerhalb, geht sie keine Beziehungen mit dem Ort ihrer Errichtung ein; sie kann beliebig ihren Platz wechseln, bleibt unabhängig von der Situation, in der sie aufgestellt wurde. In der Moderne „ist die Skulptur in ein kategoriales Niemandsland eingetreten: sie war das, was auf oder vor einem Gebäude stand und nicht das Gebäude war, oder was in der Landschaft stand und nicht die Landschaft war.“[25] Skulptur war unabhängig von Architektur und Landschaft geworden, erzeugte um sich herum ihren eigenen musealen Raum. Deswegen hat in der Moderne die öffentliche Skulptur auch praktisch keine Rolle gespielt: systematisch benutzt worden ist sie nur in denjenigen, durchweg totalitären Staaten, welche die Moderne abgelehnt und verfolgt haben.
Erst mit dem Zusammenbruch oder zumindest der völligen Erschöpfung der Moderne in den sechziger Jahren, mit dem Unglaubwürdigwerden und Verschwinden des Idealismus der Moderne mit seinen zentralen Begriffen der Autonomie und Unabhängigkeit des Kunstwerks, tauchte die Frage nach dem Kontext, nach dem Ort und dem Platz der Skulptur wieder auf – und zwar, naheliegenderweise, zusammen mit der Frage nach der Möglichkeit von Skulptur überhaupt; denn die traditionelle Gattung `Skulptur´ brach mit dem Ende der Moderne völlig zusammen (im Gegensatz zu der Gattung `Malerei´, die neue, radikalere Formen der Selbstreflexion in den sechziger Jahren entwickeln konnte). Was nach diesem Zusammenbruch sich neu bildete (und weitgehend von Fragestellungen aus, die zuerst in der spät- oder nachmodernen `materialistischen´ und `minimalistischen´ Malerei gestellt wurden), wechselte nicht zufälligerweise die Terminologie: das waren nicht mehr Skulpturen oder Plastiken, sondern `Objekte´ oder `Arbeiten´. Die Skulptur, bis dahin eine Gattung moderner Museumskunst, verlies diesen neutralisierenden Schutzraum, ohne aber an die vormoderne Tradition öffentlicher Skulptur anschließen zu können oder zu wollen. So stellte sich das Problem der Skulptur erneut, ohne dass es noch einen funktionierenden Begriff von Skulptur gegeben hätte und ohne dass sich die Skulptur noch selbstverständlich auf ihren eigenen, abgeschlossenen Ort der Kunst, das Museum, stützen oder an ihre vormoderne Unterordnung unter die (oder zumindest Zuordnung zur) Architektur oder Landschaft anschließen konnte.
Solange in der Moderne auch Skulptur als autonomes Kunstwerk verstanden wurde, stand diese in einem expliziten Nicht-Verhältnis (das ist etwas ganz anderes als ein negatives Verhältnis) zu dem Ort, an dem sie aufgestellt wurde. Die negative Definition der Skulptur in der Moderne – Skulptur als autonomes Kunstwerk ist Nicht-Architektur und Nicht-Landschaft – schlug jedoch mit dem Ende der Moderne und dem Zusammenbruch des modernen Begriffs der Skulptur in eine komplexe, erweiterte Definition um, einer strukturellen Logik der doppelten Negation folgend: Skulptur wurde jetzt das, was sowohl Landschaft als auch Architektur ist, nicht von beiden abgetrennt, sondern beide artikulierend und verknüpfend. Skulptur wurde nicht mehr als autonomes Kunstwerk gesehen, sondern zu einem markierenden und blicklenkenden Eingriff in eine vorgegebene Situation, zu einer Intervention in einen Ort – die diesen Ort durch Lenkung des Blicks und Erregung von Aufmerksamkeit erst bewusst wahrnehmbar macht. An die Stelle der modernen Gattung `autonome Skulptur´ traten jetzt Eingriffe und Einsätze, die aktiv die Wahrnehmung und das Bewusstsein von vorgegebenen Orten und Situationen entfalten und lenken, und die auf diese Weise `Orte´ (komplexe räumliche Konstellationen, die subjektive und reflexive Wahrnehmungen, Empfindungen und Erfahrungen provozieren) erst herstellten oder stifteten.
Solche `Ortskonstruktion´ oder Stiftung von Orten erforderte ein grundlegendes kulturelles Umdenken, erforderte eine völlige Veränderung der Einstellung oder der Blickweise: denn jetzt stand nicht mehr ein ästhetisch bedeutungsvolles Objekt im Zentrum des Blicks, um das herum eine bedeutungslose, irrelevante und zufällige Umgebung liegt, die selbst überhaupt nicht wahrgenommen wird, sondern der Blick wurde komplexer, umfasste das ganze Feld der Wahrnehmung, richtete sich auf die gesamte Situation mit ihren vielen unterschiedlichen Elementen und partiellen Zentren. Erforderlich wurde ein Blick, der sich nicht mehr eines Besitzes bemächtigte, sondern der sich in einem `erweiterten Feld´, einem topologischen Raum zu bewegen vermochte, der eine aktive und reflexive Kontemplation der ganzen Situation (mit all ihren architektonischen und landschaftlichen, historischen und sozialen Momenten) entfaltete. „Unsere Kultur war vorher nicht dazu fähig gewesen, diese Komplexität zu denken, obwohl andere Kulturen diesen Begriff mit großer Leichtigkeit zu denken vermochten. Labyrinthe und Irrgärten sind sowohl Landschaft als auch Architektur; japanische Gärten sind sowohl Landschaft als auch Architektur; die rituellen Spielfelder und Prozessionsplätze archaischer Zivilisationen haben sich fraglos dieser Komplexität bedient.“[26]
Das Umschlagen der modernen autonomen Skulptur in die spät- oder postmoderne Markierung des Ortes lässt sich ebenso gut als Umschlagen des Weder-Noch der modernen Skulptur (weder Architektur noch Landschaft) in ein Sowohl-Als-auch (sowohl Architektur als auch Landschaft) beschreiben, in dem das moderne Kunstwerk in ein topologisches Feld (das keine Skulptur im modernen oder vormodernen Sinn benötigt) übergeht, welches durch Markierungen topologisch qualifiziert und differenziert wird. Architektur und Landschaft werden in diesem erweiterten Feld als vorgefundene, reale Gegebenheiten entdeckt und wahrnehmbar gemacht; sie werden als schon Vorgegebene in ihrem Zusammenhang, ihrer Unvereinbarkeit oder ihrem Zusammenspiel befragt (eine Art von Bewusstseinsschulung). `Feld´ ist dabei durchaus auch wörtlich zu verstehen: es meint die jeweilige konkrete räumliche Situation mit ihren vielen unterschiedlichen Ebenen, Bedingungen und Elementen. Dabei kann dieses Vorgegebene durchaus auch in einem modernen oder vormodernen Sinn Kunst sein; es wird aber als Vorgefundenes, als Situation (für die Wahrnehmung) freigeräumt.
Der Minimal-Künstler Carl Andre beschreibt im Rückblick die grundlegende Verschiebung seiner Arbeit als Abfolge von drei Schritten: „Von der Form in der Skulptur zur Struktur in der Skulptur und bis zu dem, wo ich jetzt angelangt bin, nämlich dem Ort in der Skulptur. ... Ich begann bei der Form, ... dann kam ich zu einer Art strukturalen Position, die wahrscheinlich im 20. Jahrhundert neu, aber schon in neolithischen Kunstwerken vorhanden war (Stonehenge und Avebury usw., die ich immer sehr bewundert habe), Kunstwerke, die ebenfalls strukturell angelegt waren. Auf diese Weise gelangte ich zum `Ort´, auch eine Eigentümlichkeit der Jungsteinzeit, wie ich glaube, zu sehen etwa in der Landschaft von Südengland, bei indianischen Grabhügeln und ähnlichem.“[27] Die Entdeckung des Konzepts `Ort´ veränderte für ihn den Begriff `Skulptur´ grundlegend. Denn auch seine Bodenarbeiten aus quadratischen Metallplatten, die wie ein einfacher geometrischer Bodenbelag aussehen, erzeugen einen Ort und schmücken nicht nur den architektonischen oder irdenen Boden, sind erweiterte `Skulpturen´ und nicht nur ein flaches Bodenornament: „Ich finde sie überhaupt nicht flach. Ich glaube, irgendwie trägt jede Arbeit eine Säule aus Luft, die bis zum oberen Rand der Atmosphäre reicht. Es sind Zonen. Ich finde sie wirklich nicht flach, genauso wenig wie man ein Stück Land für flach hält, nur weil es auf der Karte flach aussieht.“[28]
V. Die Bedingungen der Situation
Die neuen `Skulpturen im erweiterten Feld´ verlassen das Museum, den Ort einer extremen Isolierung und Neutralisierung, und treten in engen Kontakt mit der von ihnen vorgefundenen Situation – sei diese eine Landschaftssituation oder ein städtischer Ort, ein Platz, eine Industriebrache, eine architektonische Lücke. Bei einer Arbeit außerhalb des Museums, bei der Inszenierung von Orten ist immer schon eine Vielheit von Bedingungen und Zwängen vorgegeben. „Diese unvermeidlichen, mächtigen, sichtbaren, bisweilen absolut unleugbaren (öffentliche Sicherheit) Zwangssituationen sind die ersten Begrenzungen, sind unmittelbare und konkrete Begrenzungen der Kunst im städtischen Raum.“[29] Neben diese Bedingungen der Situation, die vor allem mit verwaltungstechnischen und ökonomischen Zwängen verknüpft sind, treten die grundlegend anderen Wahrnehmungsbedingungen auf der Straße. Das Publikum sieht den Ort nicht im Zusammenhang mit der Geschichte der Kunst (mit anderen, verwandten oder vorausgehenden Werken), sondern als eine Art Dekoration eines funktionalen Gebrauchsraums. Die künstlerische Arbeit steht auf der Straße in starker, unvermeidbarer Konkurrenz mit einer großen Anzahl von visuellen Attraktoren, die die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen bemüht sind. Auch das setzt rigide einschränkende Bedingungen. „Was das Museum der Kunst erlaubt, verweigert ihr die Straße. Die visuelle Konkurrenz ist stark. Während des Werk sich im Museum, vor allzu anspruchsvollen Schmarotzern geschützt, durch sein schieres Vorhandensein durchsetzt, muß es draußen gegen ein extremes visuelles Schmarotzertum ankämpfen. ... Alles, was sich im Freien darbietet, ist von der Umgebung abhängig, vor allem in der Stadt, da die Umgebung dort in jeder Weise verschmutzt ist.“[30] Schon allein deswegen ist das `Freiräumen´ eines Ortes, die weitestmögliche Befreiung von diesem `Schmutz´, eine grundlegend wahrnehmungsbildende Verfahrensweise.
Diese unterschiedlichen Bedingungen der vorgefundenen Situation (zu der nicht nur die räumlichen Gegebenheiten, sondern auch die ökonomischen, historischen, sozialen und funktionalen Bedingungen des Ortes gehören) erfordern ein Umdenken der Künstler; sie müssen auf diese Bedingungen nicht nur Rücksicht nehmen, sondern sie in ihre Arbeit einbeziehen – gerade wenn sie die vorgefundene Situation wahrnehmbar machen wollen, so dass sich Erkenntnisse und Erfahrungen aus oder an dem markierten Ort bilden können. „Also ist es doch ganz und gar deutlich, daß der Künstler Gewohnheiten und Haltungen ändern muß, wenn er sich vornimmt, im öffentlichen Raum ein Werk zu schaffen, das diesen Namen verdient, das also innovativ und nicht gefällig ist.“[31] Der Künstler muss alle die Bedingungen der Situation vorweg erforschen (das bedeutet beispielsweise das Studium von Akten der Verwaltung und von historischen Dokumenten) und in seiner Arbeit Bezug auf sie nehmen; das ist möglich nur in der Arbeit in situ, der Arbeit am Ort und auf den Ort bezogen. Der Erforschung der Situation geht kein Werk voraus, sondern diese Erforschung ist der erste und wichtigste Schritt der Arbeit. „Die Arbeit in situ erlaubt es, sämtliche Parameter der Umgebung im Auge zu behalten und das geplante Werk auf sie abzustimmen. Einzig und allein die Arbeit in situ erlaubt es, den Zwängen, die jeder Umgebung innewohnen, auf intelligente Weise aus dem Weg zu gehen. Und nur durch die Arbeit in situ kann gezeigt werden, daß das Einbeziehen der örtlichen Bedingungen allein dem Werk ermöglicht, diesen Ort möglicherweise zu transformieren.“[32]
Richard Serra hat in seinen Arbeiten und seinen Schriften das Konzept der auf den Ort bezogenen (site specific) Verfahrensweisen entwickelt, die wesentlich in situ ansetzen. „Standortbezogene Arbeiten setzen sich mit sämtlichen Komponenten eines vorgegebenen Ortes auseinander. Massstab, Grösse und Position eines ortsspezifischen Werks werden von der Topographie seines Standorts bestimmt, egal, ob es sich um einen Stadt-, Landschafts- oder Architekturraum handelt. Die Arbeiten werden Teil des Orts und strukturieren ihn vom Konzept und von der Wahrnehmung her neu. Meine Arbeiten sind weder Platzdekor noch verhalten sie sich illustrierend oder abbildend zu diesem Ort. ... Die vorbereitende Untersuchung eines gegebenen Orts zieht ausser seiner formalen auch die sozialen und politischen Merkmale in Betracht.“[33] „Urbane Plastik wird in die übergreifende ökonomische und soziale Realität einbezogen.“[34] Die Site Specificity ist das Ergebnis der Untersuchung der vorgefundenen, zuerst einmal räumlichen Situation; die spezifischen Eigenschaften und Qualitäten des vorgefundenen Ortes, seine sozialen, funktionalen und historischen Aufladungen werden in der Arbeit herausgearbeitet und kenntlich. „Mein Werk bezieht sich in Grösse, Massstab, Plazierung und Struktur auf umgebende urbane Signifikanten.“[35] Eine solche Intervention funktioniert topologisch, ordnet den vorher unklaren Ort, versieht ihn mit Malen und Markierungen, die aber nicht selbst als Werke wirken sollen, sondern die Verschiebung der Wahrnehmung und der Erfahrung bis hin zur Erkenntnis der Situation und des Ortes ermöglichen sollen. „Ich denke, dass der Ort via Skulptur gelesen wird, obwohl die Skulptur den Ort in keiner Weise beschreibt oder illustriert.“[36]
So entsteht eine Bewegung der Wahrnehmung, in der die `Skulpturen´ oder plastischen Interventionen auf die Landschaft oder urbane Situation verweisen und umgekehrt die Situation auf die Arbeiten. Die Situation wird zum spezifischen Wahrnehmungsgegenstand, aber immer nur in der Wechselwirkung mit den markierenden Arbeiten. Deswegen kann man sagen, „dass man die Landschaft durch die Skulptur als pittoresk erfahre. In den Landschaftsskulpturen wird die Neudefinition des Ortes zum Inhalt des Werkes. Im Durchschreiten lenkt die Plazierung der skulpturalen Elemente im offenen Feld die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Topographie der Landschaft. In meinen urbanen ortsspezifischen Werken hingegen reagiert die innere Struktur auf äussere Bedingungen, aber letztlich wird die Aufmerksamkeit auf die Skulptur selbst zurückgelenkt.“[37] Der Ort ist demzufolge auch etwas, das sich nicht dem Blick als fixierbares Objekt entgegen- oder gegenüberstellt – im Gegensatz zur autonomen Skulptur, die als ein völlig Anderes dem bewussten, leiblosen Blick entgegensteht, keinen gemeinsamen Raum mit dem Blickenden kennt. Der Ort umschließt den Besucher oder Passanten, ist niemals mit einem Blick zu umfassen oder zu erfassen und fordert den Passanten auf, herumzugehen, verschiedene Anblicke und partielle, wechselnde Wahrnehmungszusammenhänge zu erproben. Nur durch dieses Involviertsein des gehenden Körpers und des aktiven, zweiäugigen Sehens – und meist sind auch noch andere Sinne involviert, so vor allem das Gehör und die körperlichen Empfindungen von Hitze und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, aber auch der Geruch und die Wahrnehmung der Luft oder des Windes – wird der Ort als topologischer Raum erfahrbar. „Ich wollte eine Dialektik erzeugen zwischen der Wahrnehmung des Ortes in seiner Totalität und der Beziehung, die man während des Durchschreitens zum Feld entwickelte. ... Die Absicht des Werkes ist ein bewusstes Erfahren von Physikalität in Zeit, Raum und Bewegung.“[38] Topologie und Bewegung hängen eng zusammen, vermeiden die Fixierung eines fassbaren oder begreifbaren Objekts, führen zu einer Einsicht in die Bedingungen der Situation, machen die vielfältige Realität des Ortes begreifbar. „Man kann die Topologie eines Ortes definieren, man kann beschreiben, wie sich die Charakteristika eines Ortes in der Bewegung erschliessen.“[39] „Nur aus dem, was man in einer Tätigkeit, im Vorgang des Tuns selbst über sein Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen erfährt, entsteht Wahrheit.“[40]
Bemerkenswerterweise hat Richard Serra das Konzept der site specificity in Japan entdeckt, angeregt durch die topologische Anlage von Tempelgärten (so wie auch für Rosalind Krauss die Entdeckung japanischer Gärten ein wichtiger Zugang zu einem neuen, spät- oder postmodernen Verständnis von `Ort´ war). Bei einem längeren Besuch in Kyoto 1970 entdeckte Serra das im Vergleich zu Europa völlig andere Landschaftsverständnis japanischer Gärten; 1970 stellte er auch in Japan seine ersten ausgebreiteten Bodenskulpturen her. „Ich denke, dass die ersten flachen Stücke viel mit Japan zu tun haben, mit der japanischen Landschaftsauffassung. Es war das erste Mal, dass ich mir die Zeit nahm, einen Ort in seiner Einzigartigkeit zu betrachten. Die Künstlichkeit dieser Landschaften zwingt einen, alle Einzelheiten, von der grössten zur kleinsten, zu betrachten und sich in einer Weise zu konzentrieren, die dem Westen fremd ist. Man sitzt, steht, sitzt, geht...“[41] „Ich lebte in Kyoto in der Nähe des Tempelkomplexes von Myoshin-ji. Dieser Tempelbereich ist sehr umsichtig angelegt. Das wesentliche Charakteristikum der Tempel und Steingärten ist, dass die um und durch sie führenden Wege kreisförmig angelegt sind. Die Geometrie dieser Plätze hat so ein Gehen in Biegungen und Kreisen zufolge, das einen in die Vielfalt der Veränderungen und in die Ruhe des Platzes einbezieht, die dann zustandekommt, wenn etwas richtig plaziert ist. Die klare Artikulation diskreter Elemente innerhalb der Anlage sowie der Sinn für die Anlage als Ganzes erschliesst sich erst einem kontinuierlichen Hinsehen; diese Notwendigkeit peripatetischer Wahrnehmung ist charakteristisch für Myoshin-ji. Mein sechswöchiger Aufenthalt in den Tempelanlagen und Gärten eröffnete mir die Frage, wie Raum, Zeit, Ort und Bewegung wahrgenommen und erfahren werden.“[42]
Günter Herrmann greift in seiner Arbeiten vor allem Linien auf, die in der vorgefundenen Situation mehr oder weniger unbemerkt gegeben sind, den Ort strukturieren, aber der Wahrnehmung oft entgehen. Wenn er beispielsweise das komplexe Aufeinandertreffen von sieben sehr unterschiedlichen Straßenzügen mit unterschiedlichen Neigungen (einer bildet eine Fußgängerzone im Tal, einer führt aufwärts in die Innenstadt, zwei bilden zusammen eine Durchgangsstraße, einer ist eine heruntersteigende, breite, verkehrberuhigte Allee, zwei sind kleine Straßen, die sich zum Vorplatz einer Kirche ausweiten) in eine Brunnenform transformiert, die die wichtigsten Linien dieses sich zerfasernden Platzes artikuliert und zugleich zu einer Einheit verbindet, wird dieser Platz mit seinen vielen Funktionen überhaupt erst lesbar: Baden-Baden, Leopoldsplatz, 1990. Dabei nimmt er auch die sehr unterschiedlichen Bebauungen und Straßenbeläge auf: für den Brunnen auf diesem Platz hat er hellen Granit, Serpentin, Marmor und dunkelgrünen Diabas verwendet. In Karlsruhe hat Günter Herrmann 1989 in einer `Landschaftlichen Autobahnüberbauung´ die überdeckten Linien der versenkten Autobahn mit Steinlinien und einem breiten Wasserfall wieder aufgegriffen: die parkähnliche Anlage, die erst durch die Überbauung der Autobahn entstanden war, quasi als Nebeneffekt des Straßenbaus, wird überhaupt erst verständlich, wenn diese verborgenen Linien sichtbar gemacht werden.
Die umfassenden Wüstengärten, die Günter Herrmann 1979 in Riad, Saudi-Arabien, an den Gebäudekomplex von Königsbüro, Parlament und Ältestenrat anschließend gebaut hat, nennt er selbst „Landschaftskalligrafie“. Dieser Terminus ist sehr präzise: in die wellige und hügelige Wüstenlandschaft hat Schichten und Linien aus Kies, Sand und Steinen gelegt, die eine Art Kalligrafie in der Landschaft ergeben – eine Kalligrafie, die nicht einem subjektiven Ausdrucksbedürfnis gehorcht, sondern primär durch Funktionen in der Landschaft vorgegeben ist. Es ging vor allem darum, die geringen jährlichen Niederschläge aufzufangen, zu leiten, in Rückhaltebecken zu speichern und zur Bewässerung von Grünflächen zu nutzen. Die Sand- und Kiesbänder und die Steinlinien sind also durch die Topographie der Fläche und die Bedingungen der Wasserbewirtschaftung determiniert; die Topographie aber wird sichtbar und verständlich erst durch ihre Artikulation in voneinander abgesetzten Bändern und Linien: so wird die Landschaft lesbar.
Eine noch größere und noch komplexere Konstellation ist die `Bärenanlage´, die Günter Herrmann 1991 im Zoologischen Garten Wilhelma in Stuttgart entworfen und gebaut hat. Hier ging es nicht primär um die Markierung und Sichtbarmachung der vorgefundenen topologischen und funktionalen Situation, sondern darum, einen Ort ausgehend von extrem komplexen Bedingungen zu schaffen. Diese Anlage umfasst einen großen, relativ steilen Hang, der zur Wohnstatt von Eisbären, Braunbären, Brillenbären, Bibern, Ottern, Schneeleoparden, Schneeziegen und Steinböcken werden sollte; also zum Lebensraum von Säugetieren, die im Fels und im Wasser leben. Die gebaute Landschaft aus Feld und Wasser, ein artifizielles Gebirge, in dem sich die Besucher auf unterschiedlichsten Wegen, über Brücken und Unterführungen bewegen können und das den Blick durch keine sichtbaren Zäune oder Gitter einschränkt, bewältigt fast unvereinbare Forderungen: die Anlage aus Beton und Fels nähert sich den natürlichen Lebensräumen dieser Tiere so weit wie möglich an – das Kriterium dafür ist, dass sich die Tiere wohl fühlen; sie bildet für die Betrachter einen begehbaren Felsgarten, der unterschiedlichste `Landschaftsbilder´ zu sehen gibt, Blickpunkte zum Verweilen anbietet – der Besucher bewegt sich nicht mehr in einer sterilen Zwangsarchitektur, sondern in einer vielfältigen, bewohnten Felsenlandschaft; und sie integriert die vielfältigen funktionalen Bedingungen eines Tierparks, ohne sie zu verleugnen.
VI. Garten und Landschaft
Am weitesten war das Konzept des `Orts´ vor der Moderne wohl in den Gärten Ostasiens entwickelt, und zwar besonders im japanischen Stein- oder Trockengarten (kare-sansui), wie er in den Zentempeln des 15. und 16. Jahrhunderts ausgebildet worden ist. `Garten´ im ostasiatischen Sinn (denn die entscheidenden Gestaltungsprinzipien wurden von China nach Korea und Japan übernommen, auch wenn in Japan das Konzept `Garten´ geklärt und geschärft wurde) ist immer schon eine Verflechtung von Landschaft und Architektur, ein präzise artikuliertes Ineinander von gebauten und organischen Formen und Elementen. Garten und Architektur durchdringen einander untrennbar und sind nicht voneinander ablösbar. Der Garten ist von einer Mauer und von Gebäuden umgeben und umgibt seinerseits offene Gebäude (in den Tempelanlagen und Palästen kann so ein Labyrinth von Häusern, Höfen und Gärten entstehen). Die Architektur ist streng rechtwinklig, aber offen und durchlässig für den Garten mit seinen organischen und gewundenen Formen (Formen vor allem des Grundrisses, der Bäche, Teichränder, Inseln, also der topographischen Linien in der Fläche, und weniger der Bäume und Büsche). Dabei spielen Blumen und bunte Farben fast überhaupt keine Rolle; die wesentlichen Elemente des Gartens (und vor allem des von Zenmönchen entwickelten Steingartens) sind Fels bzw. Berg (san) und Wasser (sui), in all ihren Erscheinungsformen: Bäche und Teiche, Inseln und Steine, Steinfassungen und Katarakte (in denen Wasser und Fels in einem besonders innigen Zusammenhang stehen). Der zusammengesetzte Begriff sansui (Berg und Wasser) bedeutet explizit Landschaft und formuliert, worin auch die Landschaftmalerei (haboku-sansui) des Ch’an der südlichen Song in Südchina und des späteren japanischen Zen den Inbegriff von Landschaft sah: im Felsen oder Berg, der im Kontrast zu einem Fluß oder See steil emporragt.
Der Zengarten der Muromachizeit mit seinen Steinsetzungen und Linien (Bäche, Einfassungen aus Stein, Teich- und Inselränder, später auch zu Linien gestutzte Büsche) ist stark graphisch geprägt, eine Art Bild. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen: ein Meditationsbild. „Der Kare-sansui-Garten war nicht als ein Ort der Lustbarkeit gedacht, sondern als Garten der Kontemplation. Dazu begab man sich an bestimmte Punkte im Garten, um sie zu betrachten.“[43] Vor allem wurde er vom Hojo, dem Raum des Abtes aus gesehen, von dessen Veranda oder sogar vom Inneren des Raumes aus, gerahmt durch die offenen Schiebetüren. Die Architektur lieferte so die Rahmung des Gartenbildes, das der Meditation dient. In vielen dieser Gärten wurde die (Bild-)Fläche systematisch gestaffelt: ein Vordergrund (meist eine weiße Sandfläche), ein Mittelgrund (der Teich oder der Trockengarten mit seinen Steinsetzungen), ein Hintergrund (Mauer, Wand oder Berghang); dazu treten die Elemente, die in der Landschaft außerhalb des Gartens vorhanden sind und für das Bild `geborgt´ werden: aus der Ferne sichtbare Berge oder Gebäude, die `Eingefangene Landschaft´; eine „Technik, Elemente der Hintergrundlandschaft in die Gartenkomposition einzubeziehen.“[44]
Solche Landschaftsbilder sind eng verwandt mit der Landschaftsmalerei der Ch’anmönche der südlichen Song, die von Zenmönchen in Japan übernommen und weiterentwickelt wurde. In den Gärten etwa, die Sesshu (1420-1506) angelegt hat, der größte Maler der nichtakademischen, `wilden´ Landschaftsmalerei des Zen, wurden die Prinzipien des haboku-sansui im Garten verwirklicht; so dass sich in diesen Gärten „der Kreis zwischen Gärten und Landschaftsmalerei schließt, weil die Pinselführung des Malers das Wesen der Steine begreift und umgekehrt Steinsetzungen im Garten an die Pinselführung des Malers erinnern.“[45] Diese Gärten sind ähnlich abstrakt und im Sinne einfacher Nachahmung naturfern wie die Malerei; sie sind `Gemalte Gärten´.
Auch für Günter Herrmann sind seine Landschaftsgärten oder Gartenskulpturem vor allem eine Art von Bild; sie sind komponiert, aber gerade aus den und mit der Hilfe der Bedingungen der vorgefundenen Situation komponiert – dazu gehört auch die Landschaft jenseits des Parks oder Platzes, die sichtbare, teilweise zu diesem Zweck erst freigeräumte Umgebung. Das Verdecken oder Verschleiern der vorhandenen Umgebung, selbst wenn sie nicht anmutig oder ansprechend ist, ist ihm ein Gräuel; seine Aufgabe sieht er dann darin, alle, auch widerspenstige und störende Elemente zu integrieren. Solche Elemente dürfen nicht ausgeschlossen werden, etwa durch Sichtblenden, sondern müssen durch Gegengewichte und Gegenpole aufgefangen werden, in eine für die Wahrnehmung aktive, produktive Spannung versetzt werden. Vor allem in einer Reihe von Privatgärten hat er die Einbeziehung und Artikulation – und damit Betonung und Bewusstmachung – der umgebenden Landschaft entfaltet (die Lage am Hang und die kleinere Dimension dieser Gärten ermöglicht das besonders gut): Hausgarten und Vorplatz Dr. B., Esslingen, 2001; Garten der Hangvilla von Familie W., Stuttgart, 1996; Seniorengarten „Otto Mühlschlegel Haus“, Weinstadt-Endersbach, 2001. Aber auch in einem größeren Maßstab hat er die Linien von Topographie, Hügeln und Bächen in Felssetzungen, Wasserläufen und Wasserfällen aufgegriffen, geklärt, verstärkt und betont, so besonders in der „Grünen Stadtmitte“ von Leoberg, 1979.
VII. Stein und Wasser
In den japanischen Zengärten, Feldern aus gesetzten Steinen, die als Meditationsbilder dienen, geht es um immer neue Unterscheidungen und Differenzierungen innerhalb des Rahmens einer grundlegenden Polarität, um eine Ästhetik der Differenzen einerseits von individuellen Steinen und andererseits von organischen Kurven innerhalb eines streng geometrischen, rechtwinkligen Raumrahmens (Mauern, Platz, architektonische Umrahmung). Der europäische Gegensatz zwischen Natur und Kunst wird dabei in ein differentielles Feld von Unterschieden aufgelöst, die sich auf den geometrischen Rahmen beziehen, ohne sich ihm entgegen zu setzen. Das Rational-Geometrische und das Zufällig-Chaotische, das Gebaute und das Gewachsene überlagern einander, sich gegenseitig ergänzend, im Sinne eines gerahmten Feldes oder eines `Bildes´; so entsteht „die figurative Symbiose zwischen rechtem Winkel und natürlicher Form.“[46] Jedes Element, jeder Stein, jede Linie (selbst jeder Busch) ist eigenständig, unterscheidet sich von allen anderen. Im äußersten Gegensatz zum europäischen Verständnis von Park, Garten oder Platz gibt es keine Serien, keine Wiederholungen, keine Anhäufung identischer Elemente (Blumen, Bäume, Hecken, Wege, Steinplatten) – im Gegensatz zu der streng modularen Architektur der Gebäude und Mauern. Jedes einzelne Element ist individuell, für sich (vor allem ästhetisch) interessant und soll für sich betrachtet und kontempliert werden. Die Gleichzeitigkeit der einzelnen wesentlichen Elemente, speziell der gesetzten Steine, soll erfahren werden als geordnete Vielheit, in der nichts über- oder untergeordnet wird; die vielfachen Beziehungen und Zusammenhänge zwischen den Steinen und anderen Elementen sind das eigentliche Sujet der Betrachtung.
In den etwas späteren Teegärten der Teemeister, die durchweg Zenmönche waren, wurde diese Ästhetik der Zurückhaltung oder der Schlichtheit (wabi) noch weitergetrieben. Die Gärten waren von vornherein so angelegt, dass die Besucher einen bestimmten Weg gehen mussten, der unterschiedliche Ausblicke auf kleinstem Raum bot und der durch mehrere Wartehäuschen und enge Türen den Gang rhythmisierte und eine Verlangsamung der Bewegung bis zum Stillstehen aufzwang. Der Besucher musste sich an die sorgfältig gelegten Trittsteine halten und sich ihrem Rhythmus anpassen. „Das Gehen über die Schrittsteine verlangsamt dessen Schritt, und es lenkt ihn auf einer Route durch den Garten, die ihm seine Schönheiten am besten eröffnet. ... Alles ist deshalb dazu angetan, den Menschen sich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst zu machen, was sonst im Alltag ja so kaum stattfindet.“[47] Dabei ist die Erfahrung des Raums ein wichtiges Moment des allgemeinen Bewusst- oder Gewahrwerdens. „Die Kunst des räumlichen Gewahrwerdens“[48] führt aus der funktionalen Wahrnehmung mit Hilfe des Ortes zu einer Erfahrung der Intensität und der reflexiven Selbstwahrnehmung (ob diese nun westlich `Präsenz´ oder ostasiatisch `Leere´, genannt wird – wobei mu, Leere, eher `Zwischenraum´ bedeutet). „Raum und Raumbewusstsein spielen eine ungewöhnlich wichtige Rolle nicht nur im gesamten Verlauf der Kunst des Teetrinkens, sondern auch in der Struktur des kontemplativen Feldes von wabi als Ganzem. Tatsächlich drückt sich wabi … als eine besondere Form des Raumbewusstseins aus.“[49]
In einem solchen kontemplativen Garten wird die Fülle der Wahrnehmung zurückgenommen, wird überhaupt erst ein `Leerer Raum´ freigeräumt. „Man hört auf, die Außenwelt wahrzunehmen, und mit dem Ende der Wahrnehmung der Außenwelt legt sich auch das wahrnehmende Subjekt zur Ruhe. So beginnt man die Wahrnehmung wahrzunehmen. Doch diese Wahrnehmung ist leer und insofern die allerletzte Erweiterung des Raumes.“[50] Dieses Freiräumen und Leerräumen ist eine der wesentlichsten Vorraussetzungen für jede Erfahrung überhaupt; Einrichten eines Ortes bedeutet demzufolge nicht unbedingt, ihm etwas hinzuzufügen (eine Markierung), sondern mindestens so sehr, ihn zuerst freizuräumen, die Leere zu seiner Markierung zu machen.
Was auf diese Weise wahrnehmbar wird, ist vor allem die geordnete Vielheit der Welt, ist das Spiel und Zusammenspiel der individuellen Dinge und Momente; ist, räumlich formuliert, die Topologie des Raumes, sind die unterschiedlichen Qualitäten und Gestimmtheiten der verschiedenen Bereiche des Raumes, ist die qualitative Vielfältigkeit in der Ausbreitung der Welt. „Bei diesem räumlichen Erfassen der wahrnehmbaren Welt würden wir als erstes die Koexistenz von unendlich mannigfaltigen Dingen und Ereignissen von dem Hintergrund eines grenzenlosen, nicht-zeitlichen Raumes erkennen, die miteinander in Einklang sind und sich voneinander abheben, wobei jedes eine Rolle in der unermesslichen Ausdehnung des Netzes von Wechselbeziehungen übernimmt. ... In diesem nicht-zeitlichen, räumlichen Bild der Realität muss das Netzwerk der Beziehungs-Kontinuität zwischen Dingen und Ereignissen, die die Komponenten des homogenen existentiellen Feldes bilden, in seiner grenzenlosen Ausdehnung geschildert werden, ohne dass es irgendeine unabhängige Beziehungs-Einheit gäbe, die ein in sich abgeschlossenes und sich selbst bezweckendes Ganzes darstellt, obwohl es notwendigerweise einen Brennpunkt der Subjektivität geben muss, der irgendwo innerhalb des Feldes gesetzt wird. Das, was dieses räumliche Bild der Wirklichkeit aufrechterhält, ist eher ein Gewahrwerden der Vielfalt und Mannigfaltigkeit von zufälligen Wechselbeziehungen, Übereinstimmungen und Gegensätzen zwischen den Dingen, und weniger das Gewahrwerden ihrer zeitlich-kausalen Abfolge.“[51] Die Wahrnehmung folgt nicht mehr den Pfaden der kausalen Abläufe, verfolgt nicht mehr selbstverständliche Ketten von Ursachen und Wirkungen, sondern findet sich überrascht einer unmotivierten und gleichzeitigen Vielheit gegenüber: die Welt ist als diese qualitative Vielheit erst zu entdecken, als eine komplexe Vernetzung von Beziehungen, Gegensätzen, Polarisierungen und Verknüpfungen, die gleichzeitig im Subjekt und in der Welt stattfinden und die so die Empfindung tönen oder färben und die Gestimmtheiten wechseln lassen. „In dieser besonderen, vorrangig räumlichen Sicht bilden die Dinge und Ereignisse der wahrnehmbaren Welt in einem nichtzeitlichen Raum ein ausgedehntes Netzwerk von zufälligen Begegnungen, die sich aus Koexistenz, Übereinstimmung, Wechselbeziehung und Gegensatz ergeben, welche in einer universalen Existenz mit ihrer inneren Dynamik zusammenlaufen.“[52]
Der komplexe, vielschichtige Gegensatz von Stein und Wasser strukturiert in diesen Gärten die gesamte Wahrnehmung des Raums; und Günter Herrmann baut seine `Landschaftsbilder´ ebenso vor allem auf diesem Gegensatz auf. Dabei hat er eine von außen gesehen fast rätselhafte, enge und intensive Beziehung zu Steinen. Für ihn, wie für ostasiatische Künstler, sprechen Steine – wobei sprechen vor allem heißt, dass sie komplexe Wahrnehmungen ermöglichen, die sich sowohl auf ihre Materialität beziehen, als auch auf ihre kontingente oder zufällige Form, wenn Steine gefunden oder grob gebrochen werden, als auch auf ihre imaginären Anmutungen, die mit Material und Form verknüpft sind. Für ihn sind der Besuch von Steinbrüchen, das Finden von Steinen, das Herstellen von Steinen durch die grobe Arbeit des Herausbrechens im Steinbruch eine Art Selbstentstehung (oft durchaus auch unterstützte Selbstentstehung)[53] von Formen und damit verknüpften Assoziationsfeldern – die Wahrnehmung dieser Formen ist tief im Emotionalen und subjektiv Gestimmten verankert, wird mit einer überwältigenden Evidenz erfahren. Steine eröffnen eine eigene Welt. Manche seiner Arbeiten bestehen vor allem aus unregelmäßigen, `zyklopischen´ Mauern, die ihre visuelle Prägnanz der Materialität des Steins und der komplexen Form der Schichtung aus unregelmäßigen, polygonalen Steinen verdanken: so in der Residenz der Deutschen Botschaft in Buenos Aires, 1982, oder bei der Wand der Eingangshalle im Forum für Theater und Musik, Ludwigsburg, 1987, die aus großen, fast ungelenk gefügten Tafeln aus weißem und blauem Marmor besteht.
Dabei sind Günter Herrmanns Verfahrensweisen viel offener und bewusster als in der ostasiatischen Tradition. Die verschiedenen Ebenen der emotionalen und subjektiven Faszination können voneinander getrennt und auch ganz bewusst bearbeitet werden. So haben beispielsweise viele Steine oder Skulpturen von Günter Herrmann zuerst als kleine, gefundene Steinfragmente existiert – manchmal auch Stücke und Bruchstücke von anderen Materialien, von Metall- oder Gipsformen. Diese gefundenen Bruchstücke sind keine Modelle, sondern umgekehrt der eigentliche Fund; von ihnen ausgehend werden dann große Skulpturen oder Steinsetzungen unternommen, in denen die Steine die Form der gefundenen kleinen Fragmente aufgreifen – aber selbstverständlich nicht einfach nachahmen: die Kontingenzen des Materials und seiner Bearbeitung, etwa des Brechens der Steine, werden zugelassen und genützt.
- Siehe Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in Ritter, Joachim: Subjektivität, Frankfurt 1974
- Dieter Jähnig: Hölderlin und die Architektur, Vortrag für Günter Behnisch, 11. 6. 1982, S. 23
- Jähnig, S. 11
- Jähnig, S. 2
- Jähnig, S. 14
- Jähnig, S. 12
- Jähnig, S. 24
- Jähnig, S. 27
- Günter Behnisch: Gespräch, in: Heinrich Klotz: Architektur in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1977, S. 13-63, S. 19
- Noguchi Isamu: A Sculptor’s World, London & Tokyo 1967, S. 160 (“I am excited by the idea that sculpture creates space, that shapes intended for this purpose, properly scaled in a space, actually create a greater space. There is a difference between actual cubic feet of space and the additional space that the imagination supplies. One is measure, the other an awareness of the void – of our existence in this passing world.”)
- Noguchi, S. 160 („I was much interested in prehistoric American Indian mounds at that time and had taken a trip to Ohio to see the Great Serpent Mound.”)
- Noguchi, S. 161 („I like to think of gardens as sculpturing of space: a beginning, and a groping to another level of sculptural experience and use: a total sculpture space experience beyond individual sculptures. A man may enter such a space: it is in scale with him; it is real. An empty space has no visual dimension or significance. Scale and meaning enter when some thoughtful object or line is introduced.”)
- Noguchi, S. 161 („Such sculpture is eliminative, it is neither this nor that but a thing in space that affects our consciousness – a node in the void – without content related to or derived from anything exterior to its purpose – in effect subliminal. These sculptures form what I call a garden, for want of a better name. Its viewing is polydirectional. Its awareness is in depth. With the participation of mobile man all points are central. Without a fixed point of perspective all views are equal, continuous motion with continuous change. The imagination transforms this into a dimension of the infinite.”)
- Hans Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1999, S. 7-54, S. 3
- Blumenberg, S. 23
- Blumenberg, S. 27
- Blumenberg, S. 27
- Michel Foucault: Andere Räume, in: Aisthesis, Leipzig 1990, S. 34-46, S. 37
- Foucault, S. 38
- Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, München 1975, S. 30
- Bachelard, S. 30
- Bachelard, S. 245
- Siehe Krauss, Rosalind: Sculpture in the Expanded Field, in: Krauss: The Originality of the Avantgarde and Other Modernist Myths, Cambridge, Mass., 1986, S. 276-290
- siehe Brian O’Doherty: In der weißen Zelle (1976), Berlin 1996
- Krauss, S. 282
- Krauss, S. 284
- Andre, Carl: Interview von Phyllis Tuchmann mit Carl Andre (1970), in: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden & Basel 1995, S. 141-161, S. 144/5
- Andre, S. 155
- Buren, Daniel: Kann die Kunst die Straße erobern?, in: Skulptur. Projekte in Münster 1977, Westfälisches Landesmuseum Münster, 1977, S. 481-507, S. 486
- Buren, S. 501/2
- Buren, S. 494
- Buren, S. 504
- Serra, Richard: `Tilted Arc´ zerstört, 1989, in Richard Serra: Schriften, Interviews 1970-1989, Bern 1990, S. 217-236, S. 227
- Skulptur als Platz, 1978, in Serra, S. 37-45, S. 44
- Richard Serras Urbane Skulptur, 1980, in Serra, S. 133-151, S. 148
- Richard Serras Urbane Skulptur, 1980, in Serra, S. 133-151, S. 149
- Richard Serras Urbane Skulptur, 1980, in Serra, S. 133-151, S. 150
- Shift, 1973, in: Serra, S. 19-25, S. 23
- Spin Out `72-`73, 1973, in Serra, S. 27-36, S. 28
- Skulptur als Platz, 1978, in Serra, S. 37-45, S. 42
- Interview Richard Serra mit Alfred Pacquement, 1983, in Serra, S. 183- 191, S. 185
- Skulptur als Platz, 1978, in Serra, S. 37-45, S. 38
- Günter Nitschke: Japanische Gärten, Köln 1999, S. 68
- Nitschke, S. 76
- Loraine Kuck, zitiert in Nitschke, S. 87
- Nitschke, S. 89
- Nitschke, S. 150
- Toshihiko und Toyo Izutsu: Die Theorie des Schönen in Japan, Köln 1988, S. 69
- Izutsu, S. 81
- Nitschke, S. 201
- Izutsu, S. 82/83
- Izutsu, S. 83
- analog zu den `unterstützten Readymades´ von Marcel Duchamp