Atelier Herrmann
Susanne Prinz
Ort & Monument



 

Unbestreitbar gehört Landschaft neben der Sprache zu den wichtigen, weil allgegenwärtigen Erinnerungsspeichern. Ob es sich dabei um natürliche oder menschengeprägte Landschaften handelt ist dabei zunächst einmal irrelevant. Dies erkennend entdeckte die bildenden Kunst - gestützt auf theoretische Untersuchungen Pierre Noras oder Maurice Halbwachs' zur historischen, kollektiven oder persönlichen Erinnerung - seit den 50er Jahren des 20. Jahrhundert geografisches Terrain als bedeutendes diskursives Mittel. Unterschiedlichen Traditionen folgend, widmete sich die Landart angloamerikanischer Prägung in jeweils nationaltypischer Prägung dabei besonders der Naturlandschaft während die französische Kunst im Umfeld der Situationisten aber auch der Nouvelle vague den städtischen Raum als Projektionsfläche entdeckte. In diesem gedanklichen Umfeld schrieb Gilles Ivain 1953 in seinem Formular für einen Urbanismus der Lettristischen Internationalen: "Allen Städten haftete etwas Geologisches an und bei jedem Schritt begegnet man bewaffneten Gespenstern

mit dem ganzen Zauber ihrer Legenden. Wir bewegen uns in einer GESCHLOSSENEN Landschaft, deren Markierungen uns ständig zur Vergangenheit hinziehen. Zwar erlauben uns gewisse bewegliche Winkel und flüchtige Perspektiven in originellen Auffassungen des Raumes durchzublicken, aber dieser Blick bleibt bruchstückhaft. Man muss wohl in den magischen Stellen der Volksmärchen und den surrealistischen Texten suchen - Schlösser, endlose Mauern, kleine, vergessene Bars, Mammuthöhlen, Spielbankenspiegel ...".

Offensichtlich gründet sich Ivains Auffassung vom Raum auf der Vorstellung, dass topographische Gegebenheiten weniger Anlass für formale als geschichtliche und rhetorische Denkansätze bieten. Vergleichbares lässt sich schon im 18. Jahrhundert, zur Blütezeit der Landschaftsgestaltung, finden, als die Royal Society die empirische Untersuchung englischer Topographie und ruinöser Gebäude aus historischem Interesse förderte, da sie die


Landschaft als Erinnerung an die Vergangenheit betrachtete. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden diese Vorstellungen von Pierre Nora wieder aufgenommen. In seinem Frankreich gewidmeten Werk Lieux de mémoire unterscheidet er erstmals den Ort des Gedächtnisses vom Ort der Identität und definiert ihn nicht als etwas, dessen man sich erinnert, sondern als etwas, wo die Erinnerung stattfindet. Konkret handelt es sich meist um mehrfach sinnbefrachtete Orte, die zugleich Zuflucht des Gedächtnisses und Zeugen der Geschichte sind. Schon Nora stellt fest, dass es in diesem Zusammenhang vollkommen gleichgültig ist, ob die relevanten Erinnerungen wahr sind oder nicht. Wichtig ist nur der Nachweis, dass sie die Vorstellungswelt der jeweils unterschiedlichen Kulturgruppen bestimmen. Denn schließlich verschwinden Fakten als erstes aus der kollektiven Erinnerung, die sich nur ein konzeptuelles Grundmuster erhält. Aus diesem Grunde kann jeder - solange er sich an das Grundmuster hält - beliebige Variationen desselben schaffen, die alle von der Zielgruppe verstanden und akzeptiert werden. Mit anderen Worten: Identität steht nicht da, sie ist eine kulturelle Schöpfung. Die kollektive Identität einer Region ist ein soziales Konstruktion, deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwart her ergibt.

Es gilt dabei, Erinnerung als etwas grundsätzlich anderes als Wissen zu begreifen. Wichtig für diesen Prozess ist die Erzählung, die erst den Zugriff auf vorhandenes Wissen ermöglicht. Ein solcher Umgang mit Erinnerung bedeutet für jeden gestalterischen Umgang mit Landschaft darum ein aktives Einbeziehen einer genau definierten Zielgruppe. Speicher, Depot, Archiv, Museum, Lager - Orte an denen Erinnerung traditionelle abgelagert werden, sind daher nicht nur als Metaphern zu begreifen, sondern als konkrete formale Möglichkeiten.

Erstaunlicherweise hat die Geschichte der Landschaftsarchitektur, bis vor kurzem vollkommen ignoriert, dass einen Garten architektonische Form zu geben oder im Stadtraum zu agieren nicht nur bedeutet, ein Innen von einem Außen zu scheiden. Nicht zuletzt stammen diese Widersprüche in der Landschafts- und Stadtgestaltung aus dem bis heute ungelösten Konflikt zwischen den verschiedenen Disziplinen, die sich für diesen Bereich der Gestaltung zuständig fühlen. So gibt es heute einerseits die Gartenarchitekten, die sich weiten Teils um Landschaft als natürliches Phänomen kümmern, andererseits die Ingenieure, die fast ausschließlich im Rahmen des technisch Machbaren denken. Dazwischen finden sich Architekten und immer häufiger auch bildende Künstler. Man kann getrost davon ausgehen, dass


die jeweilige Ausbildung die spezifischen Vorstellungen über das Zusammenspiel menschlicher, natürlicher und artifizieller Phänomene entscheidend prägen. So gehen Architekten und Ingenieure von einem grundsätzlich wissenschaftlichen Modell aus, dem auch bestimmte Zweige des Gartenbaus - nicht zuletzt auch die sogenannten ökologischen - nicht fern stehen. Für die meisten bleibt der Raum letztlich etwas zu organisierendes, das auf irgend eine Weise dem Menschen dient, sei es als Ressource oder Erholungsort. Für viele Ingenieure hingegen ist Natur, genau wie die von Menschen generierten Bewegungen und sozialen Nutzungen der Stadt etwas, das es zu lenken und kontrollieren gilt. Nur im Feld der Architektur und mehr noch in dem der Kunst hat sich diese Haltung inzwischen dahin modifiziert, dass diese gegebenen Kräfte nicht mehr nur als symbolische Formen verstanden werden, sondern als Aktivposten unmittelbar in den Entwurf Eingang finden. Gärten, Kultur- und letztlich auch Stadtlandschaften werden im Sinne des französische Geographen Augustin Berque als milieu oder genauer oecoumen verstanden. Orte also, die von Menschen geformt wurden und so davon erzählen, wie sie genutzt und bewohnt werden. [1]

Es ist wohl nicht zuletzt Günther Herrmanns multiple Ausbildung zum Architekten, Städteplaner

und Bildhauer, die es ihm ermöglicht, sich ebenso souverän wie selbstverständlich in dem weiten Spannungsbogen zwischen freien Skulpturkonzepten und gebrauchsbestimmten Objekten zu bewegen. Bei aller formalen Verdichtung ist sein vielschichtiges Oeuvre auf paradoxe Weise durch eine vielgestaltige und vieldeutige Materialsprache gekennzeichnet, deren ästhetische wie technische Qualitäten das Faktische mit dem Erzählerischen dergestalt zu verbinden mögen, dass seine Eingriffe das metaphysische und materielle Gleichgewicht eines Ortes erhalten oder überhaupt erst entstehen lassen. "Meine Arbeit", sagt er selbst, "konzentriert sich auf den Bau differenzierter Bilder, die es dem Betrachter erlauben, ihre eigenen Urbilder projektiv immer wieder neu zu entdecken. Dies ist nur realisierbar mit den Mitteln und Strukturen der technischen Welt." Es ist ihm wichtig, diesen scheinbaren Widerspruch sichtbar zu machen und sich so gegen "atavistische Naturimitationen, Design, nostalgischen Kitsch und unterhaltende Erlebniswelten abzugrenzen." [2]

Sein Werk ist in der Tat ein in einem Grade ineinander verwobenes System von Architektur- und Kulturkonzepten, von städte- und landschaftsplanerischen Vorstellungen, dass die modernen Termini, die allgemein benutzt werden Aktivitäten wie das Entwerfen und Planen von Gärten oder Landschaften und Städten oder


Architekturen zu unterscheiden, fast wie im 18. Jahrhundert wieder in einem einzigen Feld zusammenfinden. Nicht von Ungefähr waren es auch damals schon Gartenanlagen, an denen sich Neues ausprobieren ließ. Es scheint, dass sie noch immer insbesondere dann ein fruchtbares Experimentierfeld sind, wenn es darum geht den Beziehungen des Menschen zu seiner Umgebung eine neue Ordnung zu geben. Beispielhaft für diese Auseinandersetzung mit dem Sozialwesen Mensch unter der Berücksichtigung landschaftlicher, historischer und städtebaulicher Gegebenheiten ist Günther Herrmanns Großtieranlage im Zoologischen Garten Wilhelma in Stuttgart (1991).

Die Vorgaben für diese Aufgabe waren vielgestaltig. Das vorgesehene Gelände lag an einem steil abfallenden Hang zwischen einem im englischen Stil angelegten Park und dem historischen Teil des zoologischen Gartens, der zwar erst 1870 gegründet wurde, aber auf die Menagerien des Königs von Württemberg zurückgeht, die trotz ihrer vergleichsweise kurzen Existenz zu den wichtigsten deutschen Tiersammlungen des frühen 18. Jahrhunderts gehörte. Blickt der Besucher Berg abwärts hat er außer diesem historischen Teil des Tiergartens zusätzlich das beeindruckende Panorama Stuttgarts vor sich. Bergan hingegen bietet sich ihm eine klassische Wald- und Parklandschaft.

Potentielle Konflikte zwischen Zoo und Park, Design und Natur schienen vorprogrammiert.

Nicht weniger problematisch waren die widersprüchlichen Erwartungen, die Zoologische Gärten grundsätzlich erfüllen müssen. Sie gehören zu den offensichtlich künstlich geschaffenen Räumen. Dies liegt in der Natur der seit Hagenbeck favorisierten gitterlosen Gehege, die immer Re-Konstruktionen anderenorts existierender Landschaftstypen und -szenerien sind. Und trotzdem, nur wenige Besucher (und nicht viel mehr Planer) gestehen sich tatsächlich ein, dass sie sich im Grunde in Theaterarchitekten bewegen. So hört man, wenn über Zoogehege gesprochen wird, häufig das Ansinnen, alles solle möglichst 'natürlich' sein und der angestammten Umgebung des jeweiligen Tieres soweit wie möglich ähnlich sehen. Der Führer durch den Zoo in Chicago beispielsweise preist die Bärenhöhlen, die obwohl "vollkommen künstlich ... so aussähen wie die Bärenhöhlen in den Rocky Mountains". Tatsächlich soll ein Zoogehege eine 'natürliche' Umgebung für das Tier rekonstruieren und gleichzeitig leicht zu reinigen und leicht einsehbar sein. Die Materialien müssen robust sein und Parasiten und Bakterien keine potentiellen Brutstätten liefern. Um die Optik zu beleben, sollten der Betrachter verschiedene Standorte angeboten werden und ein kontrastierender Hintergrund zum jeweiligen Tier hilft ebenfalls bei der Besichtigung. [3]


Aber was macht das Erlebnis eines Zoobesuchs eigentlich aus? Ist es nicht in Wirklichkeit so, dass der Blick des Besuchers niemals nur auf den großen Freigehegen liegt. Sieht er nicht vielmehr neben den Tieren immer eine Anzahl komplexer Zivilisationszeichen, vom Papierkorb über die Hinweisschilder für Restaurants, Ausgang und Toiletten bis zu den Erläuterungstafeln zu den verschiedenen Spezies und ihren Lebensgewohnheiten. Ist darüber hinaus ein Besuch im Zoo nicht unweigerlich mit dem Geschrei kleiner Kinder verbunden, mit dem Geruch von Essen und nicht zuletzt mit müden Beinen. Kurz, die Landschaft eines Zoos existiert nicht einfach als elegische Rekreation der Natur, ein Zoo ist vielmehr ein kontinuierliches öffentliches Ereignis voll immanenter Widersprüchen, denen ein Planer gerecht werden muss.

Vordergründig scheint Herrmanns Anlage einfach den Prinzipien der Hagenbeckschen Präsentationsform zu folgen. Doch auf den zweiten Blick finden wir nicht nur die ungewöhnliche Konzeption, den Tieren ihr natürliches Flucht- und Deckungsverhalten zu gestatten und damit in begrenzten Maße die Idee des Zoos, diese Tiere zu zeigen, in Frage zu stellen, sondern vor allem entdecken wir das der Nützlichkeit gleichwertige Moment einer skulpturalen und malerisch bildhaften Wirkung. Wie eine allansichtige Skulptur stößt die Anlage in

den realen Raum, um gleichzeitig die Idee des Raumes im Sinne eines Bildraumes zu umreißen. Unterschiedliche Landschaftsfragmente werden zu einem Gesamtbild. Egal von welchem Standpunkt, die erkennbar technisch gebaute, künstliche Landschaft integriert sich als eigenständiges Bild vor dem gegebenen Hintergrund. Diese vielfältige Durchmischung skulpturaler, malerischer und funktionaler Wirkungen, die reale Räume als dynamische Form interpretiert, ist für Herrmanns Arbeiten charakteristisch. Das Resultat sind ideale Orten der Wahrnehmung, die nicht nur als Bildgrund funktionieren, sondern als konstituierender Bestandteil einer erfahrbaren Welt.


 

Text [1/3]